Stets kritisch

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Freitag, 25. April 2014

Burgen, Bierflaschen und Blasmusik



Burgen, Bierflaschen und Blasmusik - Von Philipp Heine

Seit der Mensch seine Erlebnisse und Bräuche aufzeichnet, hat es Bevölkerungsgruppen gegeben, die es vorgezogen hätten, in der Vergangenheit zu leben. Im alten Rom gab man sich gern ägyptisch und ließ sich in die Mysterien der Isis einweihen. In der Renaissance wollte man wie die Römer sein. Die Christen strebten teilweise danach, wieder in den Zustand des alten Israel zu gelangen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts lösen sich in schneller Folge die Moden ab, die die Flucht in eine jeweils andere historische Epoche bevorzugen. Stilbrüche zugunsten des zeitgenössischen Geschmacks und der Bequemlichkeit wurden dabei selten als störend wahrgenommen. Dieser menschliche Spleen ist nicht verwunderlich. Die Vergangenheit hat zu allen Zeiten eine Faszination ausgelöst, da sie geheimnisvoll, gefährlich, wollüstig und glamourös erscheint. Damals waren Dinge möglich, die im tristen Alltag von heute unmöglich sind. Besonders während und nach Kriegen lud die Historie zum mehr oder weniger gebildeten Eskapismus ein. Das Mittelalter ist wohl das Zeitalter, das seit langer Zeit die meisten Menschen der Moderne in seinen Bann zieht. Seit dem Bau von Neuschwanstein und der um Jahrhunderte verzögerten Fertigstellung des Doms zu Köln gab es unzählige Variationen dieses Themas. Ich möchte mich im Folgenden einiger Juwelen der heutigen Vergangenheitsverehrung annehmen.

Der Auslöser zu dieser Fragestellung ist zugleich die Keimzelle einer Vielzahl guter Ideen und Innovationen: Die Bierflasche. Wie oft saß man vom Gerstensaft angeregt und in fröhlicher Runde da und blickte mit fast liebevollem Auge auf den treuen Begleiter aus Glas. Und nach kurzem Sinnieren fragte man sich, welcher Spießer im Delirium dieses Etikett entworfen haben könnte. Mit nur extrem seltenen Ausnahmen finden sich auf den Behältern des flüssigen Brotes die gleichen Dekorationen: Wappen, Gildeabzeichen, altdeutsche Schrift, Landsknechte und natürlich fröhlich übergewichtige Mönche. Dennoch ist es unmöglich sich vorzustellen, dass Ritter Kunibert oder Bruder Anselm mit einer Kiste Warsteiner ins Refektorium traten, um die Zeit zwischen Komplet und Prim mit Frohsinn zu überbrücken. Viel eher passt die Bierflasche zum Interieur gutbürgerlicher Gaststuben. Hier finden sich mannigfaltige Reliquien des besäuselten Historismus: Humpen aus blau-weißem Steingut, Zinnteller, Holzbalken, Butzenglasfenster und zinnenbekrönte Lampen im Kupferton. Gelegentlich hängt auch an der Wand ein hölzernes Schild mit einem frivolen Sinnspruch Martin Luthers, um den traditionsbewussten Alkoholiker geistreich zu belustigen. Schon die Namen solcher Kneipen geben oft Aufschluss über das Bekenntnis zum Zeitalter vor der Aufklärung: „Bergklause“, „Klosterkeller“ oder „Zorbas zur altdeutschen Eiche“. Meist wird das Altertümliche durch einen geschickt eingesetzten Kontrapunkt unterstrichen, wie etwa einen laut dudelnden und blinkenden Spielautomaten oder Wimpel der Altherrenmannschaft des örtlichen Fußballvereins. Gern wird auch die mittelalterliche mit der volkstümlichen Tradition vermischt. Besonders das bayrische Kulturgut findet sich auf vielen Speisekarten, in der Bekleidung der Bedienungen und in Form der Hintergrundmusik.

Diese Entdeckung führt mich direkt zu der Erkenntnis, dass durch die Gruppe der heutigen Traditionsjünger in Deutschland ein tiefer Bruch geht, der zum guten Teil ein Generationenkonflikt ist. Auf der einen Seite gibt es jene, die die Zielgruppe besagter Gaststuben sind. Sie schätzen den heimatlich-vaterländischen Aspekt der alten Tradition, sind konservativ, zählen Blasmusik im Marschrhythmus und Volkslieder, die von sogenannten Musikanten dargeboten werden, zu den unverzichtbaren Elementen ordentlicher Gemütlichkeit und suchen nach Zuflucht vor multikultureller und digitaler Bedrohung. Auf der anderen Seite lebt eine Schar von Jugendlichen, der es nach einer Alternative zum geordneten und abenteuerfreien Alltag gelüstet. Statt Dirndl und Loden tragen sie lieber lederne Bundschuhe, Kettenhemden und Wämser. Sie werden gelockt von  Ritterspielen, Hexen, Gauklern, Met und Gothic-Musik. Auf Mittelaltermärkten und Festivals schlüpfen sie in andere Rollen, um unterdrückte Wünsche auszuleben und im extatischen Tanz zu vergessen, was das normale Leben eines Informatikstudenten ausmacht.

Begegnen sich Vertreter der beiden Gruppen auf der Straße, rümpfen beide die Nase und sehen die Verkörperung des Bösen vor sich. Dabei übersehen sie, dass sie viel mehr gemeinsam haben, als tatsächliche Gegensätze.

Besonders eins verbindet die Generationen und gesellschaftlichen Gruppen, auch wenn sie ihre Gegenwartsflucht unterschiedlich umsetzen: Die Liebe zum Bier und dem speckigen Design der zugehörigen Flaschen. Da viele Beziehungen nur dank des Konsums von Alkohol funktionieren, lässt sich also feststellen, dass Hoffnung für den Zusammenhalt der Gesellschaft mitsamt ihrer Subkulturen besteht.

Ich wünsche Ihnen stets einen bekömmlichen Ausflug in die bunte Welt der Vergangenheit!

Philipp Heine


Montag, 14. April 2014

Katzenmusik und Erklärbär



Katzenmusik und Erklärbär - Von Philipp Heine

Ich bin Ehemann und Hundebesitzer. Das bedeutet, dass ich – im Rahmen des gemeinschaftlichen Familienfernsehens – gehalten bin, ein gewisses Quantum an Tiersendungen anzuschauen.

Dieses Genre lässt sich grob in zwei Varianten aufteilen: Zum Ersten gibt es Sendungen, die den Intellekt ansprechen. Diese stellen Erziehungsmethoden für Haustiere, neue Erkenntnisse der Zoologie, Verhaltensforschung oder die Bedrohung bestimmter gefährdeter Arten vor. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Formate, die komplett darauf ausgerichtet sind, weibliche Urinstinkte anzusprechen. Hier werden niedliche Zootierchen gezeigt, wie sie sich putzen, bei der Mami saugen oder verspielt herumspringen. Oder es werden allerärmste Tierwaisen gezeigt, die dringend ein neues Heim benötigen. Welpen, Küken, große traurige Augen, Katzenbabies, die von einer Hündin abgeleckt werden, ein blindes Häslein oder rührend freche Frettchen bringen die Dame des Hauses in greifbare Nähe des Zustandes, in dem die Milch einschießt.

Das Männchen unterliegt zwar der gesellschaftlichen Verpflichtung, wenigstens ansatzweise Krieger und Jäger zu sein, dennoch muss ich zugeben: Auch ein Mann ist in der Lage, Niedlichkeit und lustige Tiere zu genießen. Aber es gibt eine fast unüberwindliche Hürde, die einen Mann entweder abschreckt, oder in einen rauschartigen Wahn versetzt, der verlangt, dass der teure Flatscreen mit einer XXL-Axt niedergestreckt wird und in Folge dessen mit leisem finalem Stöhnen aus den Lautsprechern blutet und schließlich seine kleine rechteckige Seele aushaucht. Bestandteile dieser Hürde sind einmal die musikalische Untermalung der genannten Sendungen und weiterhin die Gestaltung und Intonation der Sprachkommentare.
Diese möchte ich im Folgenden näher betrachten, um zukünftige Familiendramen, Amokläufe oder autoaggressives Verhalten bei Männern zu verhindern.

Um eine Tiersendung der zweiten Kategorie zu vertonen, hat der Regisseur drei Arten von Musik zur Auswahl: Dixieland-Jazz, afrikanische Folkloremusik oder assoziative Musik, die dank „Peter und der Wolf“ nicht ohne Holzbläserensembles und die Tuba auskommt. Vermutlich bilden Tiersendungen die einzige Einkommensmöglichkeit für die Vertreter dieser Musikrichtungen. (Nur die Jazzer können noch in Kabarettsendungen der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten unterkommen.) Es ist eine fast amüsante, aber jedenfalls surreale  Vorstellung, wie ein Oboist mit bunten Kleidern und Propellermütze vor einem Monitor sitzt und grübelt, ob der Nasenbär eher durch einen Triller, oder einen chromatischen Lauf dargestellt werden kann. Es stellt sich die Frage, welches Publikum außerhalb von Tiersendungen solche Musik hören würde. Nach längerem Nachdenken fallen mir nur Kindergartenkinder unter dem Einfluss von Ritalin ein.
Diese Feststellung führt mich direkt zu den Sprachkommentaren: Auch hier herrscht eine gewisse Kindergartenatmosphäre. Die Männer befleißigen sich einer Kunststimme, die man einübt, um einen märchenerzählenden Teddybären zu synchronisieren. Die Damen sprechen wie Erzieherinnen, die mit einer Gruppe von 15 Sechsjährigen im Morgenkreis sitzen und eine gaaanz tolle Geschichte von Hansi der Schermaus erzählen wollen. Man könnte sich aber auch in ein Gespräch von Muttis in der Krabbelgruppe versetzt fühlen. Mit fließenden Übergängen wird zwischen Kommunikation unter Erwachsenen und Babytalk hin- und hergeschaltet. 

Wir kommen zum Motiv der grausamen Tat: An welche Zielgruppe denken die Produzenten und Autoren besagter Tiersendungen? Der gesamte Habitus deutet darauf hin, dass an Vatis und Muttis gedacht wird, die „Familie & Co“ lesen, einen „Kevin on board“-Aufkleber auf dem Kombi haben und sicherstellen wollen, dass die Kurzen noch vor der Analphase wissen, was eine Lachhyäne ist. Auch Tiermamis gehören zum eingeplanten Publikum. Die welpenbedingte Hormonlage wird mit absoluter Sicherheit dafür sorgen, dass keine Frau sich an Musik und Kommentaren stört. Nicht in der Rechnung berücksichtigt wurden allerdings all jene Männer, die sich aufopfern, um ihrer Frau zu zeigen, dass sie an ihren Interessen Anteil nehmen. Mit glasigen Augen, zwischen Unglaube und Aggression schwankend, sitzen sie vor dem Fernseher und fragen sich, ob sie es persönlich nehmen sollen, wenn Medienmacher sie wie Kleinkinder behandeln.
Ich möchte diesen Beitrag also mit einem Gnadengesuch an die Verantwortlichen in Funk und Fernsehen schließen: Bitte, auch wenn das Zeitalter des Mannes Vergangenheit ist, lasst ihm einen Rest an Würde. Auch wenn er nicht so stolz und schön ist, wie ein spanischer Windhund.

Ich wünsche Ihnen, dass Sie und Ihr Ehepartner die gleichen Fernsehsendungen mögen!

Philipp Heine

Sonntag, 13. April 2014

Ungerecht ist gemein!



Ungerecht ist gemein! - Von Philipp Heine

Als ich noch ein Kind war, gehörte zu meiner Persönlichkeit eine innere Stimme, die wie ein genetisch programmierter Ehrenkodex von mir verlangte, einen bestimmten Maßstab von Gerechtigkeit an meine Handlungen anzulegen. Die meisten anderen Kinder, mit denen ich zu tun hatte, gehorchten offenbar der gleichen Stimme, denn sie beschwerten sich jedes Mal lautstark, wenn dem anscheinend allgemeinen Ideal der Gerechtigkeit nicht entsprochen wurde. Diese Gerechtigkeitsvorstellung lässt sich am besten durch folgendes Bild skizzieren: 

Ein Kind holt aus der Küche eine Flasche Limonade und einige Gläser. Die Gläser werden nebeneinander auf dem Wohnzimmertisch aufgebaut. Mit kritischem Blick stehen alle vom Durst geplagten Halbwüchsigen um den Tisch herum. Noch näher rücken sie, als der Sprössling des Hauses mit dem Einschenken beginnt. Entdecken sie, dass ein Glas nicht die exakt gleiche Füllmenge, sondern mehr oder weniger Limonade enthält, wird lauter Protest hörbar, der nicht ohne die Begriffe „ungerecht“ und „gemein“ auskommt.

Nachdem ich Jahre später feststellen musste, dass diese Variante von Gerechtigkeit durchaus Schwächen hat, musste ich mein moralisches Empfinden etwas differenzieren. Etwa wenn zufällig ein sehr kleiner  tiefenentspannter Mann bei Raumtemperatur das gleiche Glas Wasser bekommen soll wie ein Hüne, der gerade in der Wüstensonne 500 Meter Schienen verlegt hat, dann wird die Rechtfertigung der Methode schwierig. Erstaunlicherweise gibt es erwachsene Menschen, die dennoch dem kindlichen Verteilschema treu geblieben sind. Man erkennt sie oft an der Vorliebe für rote Textilprodukte, den Klang von Schalmeien und Schiebermützen aus Leder.

Ist es falsch, jedem  die exakt gleiche Portion zuteilen zu wollen? Auf diese Weise wäre Gerechtigkeit extrem transparent und überprüfbar. Die eifrigen Verfechter in der politischen Landschaft setzen als gegeben voraus, dass die Durchsetzung von Gerechtigkeit zentrale Aufgabe des Staates und seiner Organe sei. Statt eines Dreikäsehochs soll also neben jedem Glas, in jeder Bank und an jeder Lohn- und Nahrungsausgabe ein freundlicher Herr mit Schlapphut, oder ein von ihm inoffiziell beauftragter Zivilist stehen, der über Maß und Ordnung wacht.
Da dieses Bild, besonders bei den älteren Bürgern, negative Assoziationen wecken könnte, müssen sich die Vorkämpfer gegen die Unterdrückung des kleinen Mannes mit Argumenten und Positionen schmücken, die jeden Kritiker automatisch zu einem Unmensch und menschlichen Raubtier degradieren. Eine dieser Positionen besteht im bedingungslosen Pazifismus. Für einen Kommunisten ist Pazifismus nahezu ein Geschenk des nicht existierenden Gottes. Studentinnen von Sozialwissenschaften bekommen bei der bloßen Erwähnung feuchte Augen, Gegner beginnen, die Bewegung für harmlose Spinner zu halten und werden weniger wachsam, Bündnisse mit westlichen Partnern, die auch auf Verteidigung beruhen, werden ausgehöhlt, so dass man auf eine ungemein praktische Isolation zusteuert, die das Salz in der Suppe jeder Diktatur des Proletariats ist.

Das Einzige, was noch zur moralischen Vollkommenheit fehlt, ist das wiederholte und öffentliche Bekenntnis, dass jede Idee, jeder Mensch und jedes Produkt, dass in den Vereinigten Staaten von Amerika entstanden ist umweltschädlich, ausbeuterisch, zu kalorienreich und geistig minderbemittelt sei.

Ein heutiger Student der Politik- und Sozialwissenschaften lernt angesichts dieser Tatsachen zwei wesentliche Fakten, wenn er das vierte Semester abgeschlossen hat: Wie man seinen Namen schreibt und wo man bei der Wahl sein Kreuz machen muss, um in Gleichheit und Gerechtigkeit, in blühenden Landschaften und rauschenden Wäldern und unter einfachen und naturnahen Menschen zu leben. Wie schön wäre es doch, wenn alle wieder bei Kerzenschein am Webstuhl oder Spinnrad sitzen dürfen, um rotes und grünes Tuchwerk herzustellen. Keine Angst mehr vor dem Klimawandel, kein Feinstaub und keine hektische Mobilität. Globalisierung und oberflächliche Vergnüglichkeiten von Übersee wären Albträume der Vergangenheit. In den Eiskästen lägen wieder Produkte aus der direkten Nachbarschaft, gerecht rationiert und zu wenig, um Fett anzusetzen. Die Kinder würden wieder mit Fackeln und Trommeln in der Natur spielen, statt Mützen verkehrt herum zu tragen und so zu tun, als kämen sie aus den Slums und Ghettos von Bielefeld oder Paderborn. Eine friedliche Welt, in der höchstens die Gefahr bestünde, dass die Russen kommen, doch das wäre immerhin moralisch vorteilhafter, als Sklave der amerikanischen Spaßgesellschaft zu sein. Mit einem Seufzen tropft bei diesen Gedanken eine Träne der Rührung in den Müsli.

Schade nur, dass das Gerechtigkeitsempfinden subjektiver Art ist. Das bedeutet, dass selbst in einer Welt, die auch nach den höchsten Ansprüchen der heutigen Zeit vollkommen ist, ein Großteil der Einwohner unzufrieden wäre und über die maßlose Ungerechtigkeit schimpfen würde.

Ich wünsche uns allen, dass es übereifrigen Gerechtigkeitsvertretern nicht gelingt, zwei gleichvollen Gläsern Freiheit und Wohlstand zu opfern. Das wäre gemein!

Philipp Heine

Samstag, 29. März 2014

Ich mag meine Midlife-Crisis. Warum hatte ich meine Midlife-Crisis nicht schon mit 21 Jahren?

Ich mag meine Midlife-Crisis. Warum hatte ich meine Midlife-Crisis nicht schon mit 21 Jahren? 

- von Captain Slow

Einige meiner Freunde haben die böse 4 schon erreicht. 40 Jahre, die magische Zahl. Für mich ist sie das jedenfalls. Mich holt sie in diesem Herbst ein. Das verdammte Jahr 2014 gibt mir also seine böse 4 ab. Können wir es nicht das Jahr 201 nennen? Dann wäre die Sau an dem Punkt blank. Aber es hilft wohl nichts.

Die meisten Männer behaupten, ihnen mache das nichts aus. Manchen glaube ich es, manchen nicht. Mir jedenfalls ist es überhaupt nicht egal. Keine Ahnung, woran es liegt, aber seit ich 39 bin, hat sich vieles für mich verändert. Ich entdecke meine Midlife-Crisis. Wir reden hier nicht über selbstmitleidiges Sinnieren über den Sinn des Lebens und die Frage, was es noch zu bieten hat. Wir reden nicht über Rheuma und Erektionsstörungen. Um da gleich jedem Zweifel vorzubeugen: Ich bin immer noch der alte. Nur eben etwas älter.

Ich meine auch nicht die Umstände meines Lebens. Ich meine die Art und Weise, wie ich darauf blicke. Meine Sicht auf mein eigenes Leben hat sich völlig verändert. Genauer betrachtet muss ich sogar sagen: Es haben sich neue kritische Blickwinkel ergeben, die ich zuvor nicht kannte.

Ich stelle plötzlich entscheidende Dinge meines Lebens in Frage, die ich bisher einfach nur hingenommen habe. Und ich bin plötzlich bereit, hieraus Konsequenzen zu ziehen, mögen sie noch so gravierende Folgen haben. Ich bin dabei erstaunt über meine geradezu radikale innere Bereitschaft, zentrale Punkte meines gewohnten Daseins über den Haufen zu werfen. Ich bin ein Rebell! Das letzte Mal, als ich mir eingebildet habe, ein Rebell zu sein, war das beim Kiffen auf dem Schulhof. Als ich 18 war, war das auf eine gewisse Weise rebellisch. Auf einer christlichen Privatschule jedenfalls. Mich schaudert es heute beim Gedanken an meine damalige Chuzpe... nicht!

Wer jetzt spekuliert, was ich denn wohl für wahnwitzige Konsequenzen gezogen haben könnte: Keine Sorge! Ich habe mein geliebtes Auto nicht gegen einen Zweisitzer aus Zuffenhausen getauscht und lebe auch nicht mit der neuen Liebe meines Leben zusammen, die Chantal oder so ähnlich heißt und gerade 20 ist. Ich bin nicht Dieter Bohlen oder Lothar Matthäus. Ich denke über Dinge nach, über die jemand, der seit Jahrzehnten seinen Lebensunterhalt mit dem Arrangement der selben zwei Akkorde verdient, nicht sinniert. Ich habe mein Leben nicht damit verbracht, den ganzen Tag gegen einen Ball zu treten, bzw. mir diesen täglich vielfach mit voller Wucht gegen die Rübe dreschen zu lassen, bis der Bregen weich wird. Auch wenn Lothar Matthäus für mich immer einer der Helden von 1990 bleiben wird: Ich glaube nicht, dass osteuropäische Models mit dem Intellekt von 5 Metern Feldweg Gottes Geschenk an die Männer sind. Tatsächlich bin ich Lothar Matthäus bei einer Geschäftsreise nach München am Flughafen direkt in die Arme gelaufen und habe ihn nicht um ein Autogramm gebeten. Der Held ist irgendwie zu menschlich geworden. Danke Bild und Gala! Si tacuisses, philosophus mansisses, Lodda!

Ich frage mich wie und warum ich wichtige Entscheidungen in meinem Leben getroffen habe und stelle leider fest: Meist habe ich sie gar nicht bewusst getroffen. Jedenfalls nicht im Sinne einer zielgerichteten Auswahl einer von verschiedenen Möglichkeiten. Warum habe ich Jura studiert? Ich weiß es wirklich nicht. Dabei war das wohl eine gute Entscheidung. Doch aber auch der reine Zufall. Mein (warum auch immer) begonnenes Chemiestudium war eine Karre Mist. Also weg damit und her mit was Neuem. Und was macht man, wenn man so gar keinen Plan hat, was man werden will? Richtig: BWL oder Jura. So stellte ich die entscheidendste Weiche meines Lebens. Unfassbar eigentlich. Was kommt nach dem 2. Staatsexamen? Jedenfalls nicht Angestellter sein, dachte ich mir. Da blieb ja nur eine eigene Rechtsanwaltskanzlei. Schwein gehabt, dass ich ganz gut in meinem Job bin. Das hätte sehr in die Hose gehen können.

Warum arbeite ich eigentlich permanent? Warum habe ich kaum Zeit für Hobbies? Warum gebe ich mir den unglaublichen Stress, nicht nur mein eigenes Leben zu finanzieren, sondern auch das diverser Angestellter meiner Kanzlei? Ich weiß es nicht. Es ist so passiert, hat sich so entwickelt. Entwickelt, ohne dass ich wirklich sagen könnte, ich hätte mich bewusst dafür entschieden. Unreflektierte Sachzwänge. Der Lauf des Lebens. Vor 2 Jahren hätte ich mit den Schultern gezuckt und gesagt: „Moin, ist halt wie es ist.“

Ist halt wie es ist“ beschreibt für mich vieles bis zur Vorahnung des 40. Geburtstags. Und plötzlich ist alles anders: Warum ist es so und sollte ich das ändern? Soll es so weitergehen? Kann ich etwas ändern? Was kann ich tun? Was sind die Vor- und Nachteile? Keine Tabus! Mein Leben ist endlich, ich kann mir nicht leisten, es zu verschwenden.

Ein guter Freund riet mir: „Komm mal wieder runter, das ist eine normale Phase. Die geht aber wieder vorbei.“ Vielleicht hat er Recht. Das geht vorbei und alles geht wieder seinen gewohnten Gang. Aber ist das gut? Nein, ist es nicht! Ich will nicht, dass es vorbei geht. Im Gegenteil. Warum war es nicht schon immer so? Warum habe ich nicht schon immer jede Entscheidung bewusst in Frage gestellt, gepaart mit der uneingeschränkten inneren Bereitschaft, Fehlentscheidungen radikal zu berichtigen, falsche Entwicklungen zu korrigieren?

Ich mag meine Midlife-Crisis. Ich wünschte, ich hätte sie schon mit 21 Jahren gehabt.

Captain Slow







Donnerstag, 27. März 2014

Tierhalter – Eine possierliche Subkultur



Tierhalter – Eine possierliche Subkultur - Von Philipp Heine

Tiere können für den urbanen Westeuropäer verschiedene Funktionen haben: Wächter, Kindersatz, Freundersatz, Accessoire, Statussymbol, Sportskamerad oder Fußwärmer. Für mein eigenes Haustier, einen elfjährigen Labrador, trifft neben „Kumpel“, „Raumdeodorant“ und „Verschlinger alles theoretisch Essbaren“ besonders letzteres zu. Mit dem Kauf eines nicht-menschlichen Hausgenossen wird man automatisch Teilhaber an einer neuen, bunten und surrealen  Welt, in der es oft merkwürdig riecht. Nicht nur Tiere sorgen in diesem Paralleluniversum für abstrakte Eindrücke, sondern besonders auch eine Vielzahl an Herrchen und Frauchen in ihren diversen Schattierungen. Dieser Umgang prägt das Alltagsleben ungemein: Man schaut andere Sendungen, unterhält sich ohne mit der Wimper zu zucken über alle vorhandenen Variationen von Fäkalien, als ginge es um Erdbeeren, man lernt interessante Menschen kennen, von denen man nur den Namen des Tiers kennt und man verliert – selbst als Mann – die Scheu, mit lauter quietschiger Stimme, untermalt von irrsinniger Gestik, Kommandos zu brüllen, während sich der kleine Kollege in den nächsten Busch verdrückt, um ekelige Gegenstände zu fressen.
Besonders interessant finde ich die Beobachtung anderer Tierhalter. Es gibt auf der Welt nur äußerst wenige Dinge, die derart sympathisch, bizarr und farbenfroh sind, wie die Kombination aus Mensch, Macke und Haustier. Am radikalsten sind alle Ausprägungen der mehr oder weniger artgerechten Tierliebe bei den menschlichen Weibchen vertreten. Im Folgenden möchte ich einige exemplarische Urtypen der Tierhalterin vorstellen und näher betrachten:

Die Fachfrau:

Egal um welches Tier es sich handelt, immer finden sich besondere Damen in der Vereins- und Trainingsgruppenszene, die besonders erfahren, informiert und engagiert sind. Oft hat man den Eindruck, dass bei diesen der Grad an Professionalität proportional zu Körpergewicht und Männermangel steigt. Analysiert man die Sprache dieser Fachfrauen, dann fällt eine gewisse Ähnlichkeit zu derjenigen von frisch gebackenen Müttern auf: Mit resoluter Sachlichkeit wird die jeweils einzig vertretbare Methode der Zucht oder Erziehung doziert, wobei unerklärte Fachbegriffe, Abkürzungen und Produktnamen obligatorisch mit betonter Routine eingeflochten werden. Andere Auffassungen werden mit übertrieben falschem Lächeln oder offenem Naserümpfen disqualifiziert. Da die Fachfrauen oft einen großen Anteil ihres sozialen Lebens dem Vierbeiner opfern und über umfangreiche Fachkenntnisse verfügen, sind sie diejenigen Halter, die Mümmel, Minka und Wuffi sich wünschen.

Die Lebendpelzträgerin:

Im krassen Gegensatz zur ersten Gruppe geht es nun um Vertreterinnen der Weiblichkeit, die meist keinerlei Wissen über Tiere mitbringen. Stattdessen verfügen sie über ausreichende Barmittel und das dringende Bedürfnis, sich und ihren sozialen Status öffentlich darzustellen. Die Auswahl des Tiers orientiert sich in der Regel an den prominenten Vorbildern: Welche Tiere schauen aus der Handtasche des momentan angesagtesten It-Girls? Was wackelt über den roten Teppich? Womit schmücken sich Menschen, die es geschafft haben? Mit was geht der Edelmann auf Jagd? Welcher Goldfisch ist der teuerste? Qualzucht oder zuchtbedingte Eigenschaften, die über die äußere Erscheinung hinausgehen sind kein Thema bei der Entscheidung. Namensgebung und hochkarätiges Zubehör sind deutlich wichtiger. Fast immer folgt eine Tragödie für Mensch, Tier und Wohnungsausstattung.

Frauchen Theresa

Jeder Fernsehzuschauer weiß heutzutage, dass der Süd- und Südosteuropäer  dazu neigt, Tiere wie gefühllose Nutzgegenstände zu behandeln. Entsprechend werden in Deutschland Butterfahrten in spanische und rumänische Tierheime organisiert, wo empörte Tiermamis ihren Urinstinkten freien Lauf lassen können. So strömen jedes Jahr Heerscharen geretteter Notfälle ins Land der tierlieben Teutonen. Nichts brauchen wir mehr als traumatisierte, kranke und verhaltensauffällige Hunde und Katzen, an denen anscheinend ein Mangel besteht. Auf diesem Wege werden die Probleme zwar nicht gelöst, sondern in unser Land verlagert, aber immerhin profitieren Hundeschulen, Tourismus und das Fernsehen vom Mitleidsgeschäft.

Die Patientin

An wen wenden sich all jene Frauen, die eine schwere Kindheit, einen brutalen Ehemann oder ein traumatisches Erlebnis hatten? Richtig! An den stets treuen und kuscheligen Partner mit vier Pfoten, der immer ehrlich, gefühlvoll und authentisch ist.  Er wird vom Tier zum Partnerersatz, Seelentröster oder Bodyguard. Da ein Tier komplett andere Strategien und Prioritäten bei der Wahrnehmung und Bewertung seiner Lebenswelt hat, als ein Mensch, kann er diese Funktionen nur innerhalb seiner besonderen Grenzen erfüllen. Gelingt es Frauchen in ihrer Pein nicht, zwischen Mensch und Tier zu unterscheiden, dann darf sich der gespannte Zuschauer auf Bonmots freuen, die gern mit zerbissenen Schuhen, Klopapier, Kissenfüllungen, gelben Pfützen im Haushalt, hysterischen Jagden nach dem eigenen Schwanz, Knurren, Zähnefletschen oder kompletter Missachtung zu tun haben. 
 
Zusammenfassend kann man sagen, dass es eine große Bereicherung und Erfahrung ist, ein Haustier zu halten. Ob es allerdings Halter und Tier sind, die davon profitieren, oder nur der hämische Beobachter, hängt davon ab, inwiefern sich der beteiligte Mensch vor der Anschaffung  über die spezifischen Eigenschaften des Tieres, die Tatsache, dass es sich um ein Tier handelt und die eigene psychische Situation bewusst geworden ist.

Ich wünsche Ihnen allen einen fröhlichen Begleiter, der ihre Wohnung aus glücklichem und treuem Herzen mit Haaren und Düften dekoriert.

Philipp Heine