Stets kritisch

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Freitag, 25. April 2014

Burgen, Bierflaschen und Blasmusik



Burgen, Bierflaschen und Blasmusik - Von Philipp Heine

Seit der Mensch seine Erlebnisse und Bräuche aufzeichnet, hat es Bevölkerungsgruppen gegeben, die es vorgezogen hätten, in der Vergangenheit zu leben. Im alten Rom gab man sich gern ägyptisch und ließ sich in die Mysterien der Isis einweihen. In der Renaissance wollte man wie die Römer sein. Die Christen strebten teilweise danach, wieder in den Zustand des alten Israel zu gelangen. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts lösen sich in schneller Folge die Moden ab, die die Flucht in eine jeweils andere historische Epoche bevorzugen. Stilbrüche zugunsten des zeitgenössischen Geschmacks und der Bequemlichkeit wurden dabei selten als störend wahrgenommen. Dieser menschliche Spleen ist nicht verwunderlich. Die Vergangenheit hat zu allen Zeiten eine Faszination ausgelöst, da sie geheimnisvoll, gefährlich, wollüstig und glamourös erscheint. Damals waren Dinge möglich, die im tristen Alltag von heute unmöglich sind. Besonders während und nach Kriegen lud die Historie zum mehr oder weniger gebildeten Eskapismus ein. Das Mittelalter ist wohl das Zeitalter, das seit langer Zeit die meisten Menschen der Moderne in seinen Bann zieht. Seit dem Bau von Neuschwanstein und der um Jahrhunderte verzögerten Fertigstellung des Doms zu Köln gab es unzählige Variationen dieses Themas. Ich möchte mich im Folgenden einiger Juwelen der heutigen Vergangenheitsverehrung annehmen.

Der Auslöser zu dieser Fragestellung ist zugleich die Keimzelle einer Vielzahl guter Ideen und Innovationen: Die Bierflasche. Wie oft saß man vom Gerstensaft angeregt und in fröhlicher Runde da und blickte mit fast liebevollem Auge auf den treuen Begleiter aus Glas. Und nach kurzem Sinnieren fragte man sich, welcher Spießer im Delirium dieses Etikett entworfen haben könnte. Mit nur extrem seltenen Ausnahmen finden sich auf den Behältern des flüssigen Brotes die gleichen Dekorationen: Wappen, Gildeabzeichen, altdeutsche Schrift, Landsknechte und natürlich fröhlich übergewichtige Mönche. Dennoch ist es unmöglich sich vorzustellen, dass Ritter Kunibert oder Bruder Anselm mit einer Kiste Warsteiner ins Refektorium traten, um die Zeit zwischen Komplet und Prim mit Frohsinn zu überbrücken. Viel eher passt die Bierflasche zum Interieur gutbürgerlicher Gaststuben. Hier finden sich mannigfaltige Reliquien des besäuselten Historismus: Humpen aus blau-weißem Steingut, Zinnteller, Holzbalken, Butzenglasfenster und zinnenbekrönte Lampen im Kupferton. Gelegentlich hängt auch an der Wand ein hölzernes Schild mit einem frivolen Sinnspruch Martin Luthers, um den traditionsbewussten Alkoholiker geistreich zu belustigen. Schon die Namen solcher Kneipen geben oft Aufschluss über das Bekenntnis zum Zeitalter vor der Aufklärung: „Bergklause“, „Klosterkeller“ oder „Zorbas zur altdeutschen Eiche“. Meist wird das Altertümliche durch einen geschickt eingesetzten Kontrapunkt unterstrichen, wie etwa einen laut dudelnden und blinkenden Spielautomaten oder Wimpel der Altherrenmannschaft des örtlichen Fußballvereins. Gern wird auch die mittelalterliche mit der volkstümlichen Tradition vermischt. Besonders das bayrische Kulturgut findet sich auf vielen Speisekarten, in der Bekleidung der Bedienungen und in Form der Hintergrundmusik.

Diese Entdeckung führt mich direkt zu der Erkenntnis, dass durch die Gruppe der heutigen Traditionsjünger in Deutschland ein tiefer Bruch geht, der zum guten Teil ein Generationenkonflikt ist. Auf der einen Seite gibt es jene, die die Zielgruppe besagter Gaststuben sind. Sie schätzen den heimatlich-vaterländischen Aspekt der alten Tradition, sind konservativ, zählen Blasmusik im Marschrhythmus und Volkslieder, die von sogenannten Musikanten dargeboten werden, zu den unverzichtbaren Elementen ordentlicher Gemütlichkeit und suchen nach Zuflucht vor multikultureller und digitaler Bedrohung. Auf der anderen Seite lebt eine Schar von Jugendlichen, der es nach einer Alternative zum geordneten und abenteuerfreien Alltag gelüstet. Statt Dirndl und Loden tragen sie lieber lederne Bundschuhe, Kettenhemden und Wämser. Sie werden gelockt von  Ritterspielen, Hexen, Gauklern, Met und Gothic-Musik. Auf Mittelaltermärkten und Festivals schlüpfen sie in andere Rollen, um unterdrückte Wünsche auszuleben und im extatischen Tanz zu vergessen, was das normale Leben eines Informatikstudenten ausmacht.

Begegnen sich Vertreter der beiden Gruppen auf der Straße, rümpfen beide die Nase und sehen die Verkörperung des Bösen vor sich. Dabei übersehen sie, dass sie viel mehr gemeinsam haben, als tatsächliche Gegensätze.

Besonders eins verbindet die Generationen und gesellschaftlichen Gruppen, auch wenn sie ihre Gegenwartsflucht unterschiedlich umsetzen: Die Liebe zum Bier und dem speckigen Design der zugehörigen Flaschen. Da viele Beziehungen nur dank des Konsums von Alkohol funktionieren, lässt sich also feststellen, dass Hoffnung für den Zusammenhalt der Gesellschaft mitsamt ihrer Subkulturen besteht.

Ich wünsche Ihnen stets einen bekömmlichen Ausflug in die bunte Welt der Vergangenheit!

Philipp Heine


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