Stets kritisch

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Montag, 30. September 2013

Von der Todesnähe und Zweirädern



Von der Todesnähe und Zweirädern - Von Philipp Heine

Wer – außer den Angehörigen der virtuellen Generation -  erinnert sich nicht an jene lauen Sommerabende, an denen man auf dem Rücken im Gras lag und in die Unendlichkeit der Sterne blickte. Klein kam man sich vor, und man staunte über Weisheit und Ratschluss jener höheren göttlichen Macht, die all dies geschaffen hatte. Zunehmend beschleicht mich jedoch das blasphemische  Gefühl, dass der große Schöpfer entweder einen merkwürdigen Humor oder eine sadistische Tendenz haben könnte. Die Anzeichen dafür werden sowohl auf makrokosmischer als auch mikrokosmischer Ebene sichtbar. Alles weist darauf hin, dass die Selbstzerstörung der erschaffenen Wesen eine wesentliche Pointe des göttlichen Lustspiels ist. Es scheint ein Naturgesetz zu sein, dass all jene Dinge, die angenehm und erfreulich sind, gleichzeitig auch die gefährlichsten sind. Gutes Essen, Sex, Alkohol, Autofahren oder Rauchen, alles resultiert in Krebs, Herzinfarkt oder AIDS. Diejenigen Menschen, die aus Todesangst auf die schädlichen Freuden verzichten, leben häufig länger und müssen sich nicht vor dem Tod fürchten, da dieser sich kaum von ihrem bisherigen Leben unterscheidet. Der Schöpfer lächelt fein.
 
Ich möchte den perfiden kosmischen Plan im Kleinen an einer besonderen Gruppe von Menschen nachweisen, die außergewöhnlich gut anschaulich machen, dass man nicht entkommen kann: Die Radfahrer.
 
Eine Reihe von merkwürdigen und zugleich arttypischen Begegnungen mit Vertretern dieser Subkultur hat mich bewogen, dieses Thema aufzugreifen und zu vertiefen:
 
Tief in Gedanken spazierte ich vor einigen Tagen durch die sonndurchflutete Innenstadt, als plötzlich  ein gellender Schrei ertönte, gefolgt von lauten Gebrüll. Mein erster Verdacht war, dass ich Zeuge einer Verschleppung sein könnte. Wieder wird ein unschuldiger Fanatiker von den Häschern der CIA nach Guantanamo entführt. Doch nein! Das Bild, das sich mir bot war ein ganz anderes: Am Straßenrand stand ein zorniges Männlein mit Fahrrad, das drohend seine kleine Faust gegen einen Autofahrer richtete, der es vermutlich seiner Vorfahrt beraubt hatte. Flüche und Schimpfworte wurden betont laut ausgestoßen, als sollten sie der Öffentlichkeit mitteilen „Hilfe, hier wird ein Mensch unterdrückt!“. Der Mann trat standesgemäß auf, nämlich in beige Hose und Outdoorjacke gewandet, Sandalen ohne Socken, ergrauter getrimmter Vollbart und Brille, was ihn als Beamten des öffentlichen Dienstes mit Hauptfächern Deutsch und Sozialkunde auswies. Auf seinem Haupte saß der geforderte Schalenhelm, der in meiner Jugend zu unausweichlichem Verprügeltwerden durch größere Mitschüler geführt hätte. Erleuchtung traf auf rohe Barbarei.
 
Nur einen Tag später fuhr ich mit meinem Auto auf eine Landstraßenkreuzung zu, als, wie aus dem Nichts, ein unglaublich aerodynamischer Mensch auf einem Rennrad besagte Kreuzung auf meiner Seite der Verkehrsinsel schnitt und mir auf meiner Straßenseite entgegen kam. Vor Schreck konnte ich nicht einmal den Namen des Sponsors auf seinem Trikot erkennen. In mein Gedächtnis brannte sich nur dieser komplett ungerührte, ja todesverachtende Blick, der mich vollständig zu ignorieren schien.
Die dritte denkwürdige Episode ereignete sich heute Morgen, als ich mit dem Hund zum Gassigehen fuhr. Auf dem Weg kam mir auf einem Rad ein älterer Herr entgegen. Wir befanden uns in einer Tempo-30-Zone, die ich mit Tempo 30 durchquerte. Dennoch gab mir der Herr mit einer Auf-und-ab-Winkbewegung zu verstehen, dass mein Fahrtempo irgendeine Art der Bedrohung darstellte. Ich ging zunächst dankbar und optimistisch davon aus, dass er mich vor einigen jener Prätorianer des öffentlichen Rechts warnen wollte, die sich gelegentlich heldenhaft mit einem Blitzgerät hinter Büschen verstecken, um so ihren Kampf gegen Gewalt, Korruption und organisiertes Verbrechen zu führen. Nach einigen hundert Metern musste ich feststellen, dass es sich nicht um eine solche Warnung gehandelt hatte, da kein Blitzer zu sehen war. Das Winken war also kein Akt der Freundlichkeit, sondern Ausdruck pensionierter Verkehrspädagogik. Welch eine menschliche Enttäuschung!
 
Was verbindet nun diese drei Alltagsgeschehnisse miteinander?
Das Radfahren scheint den Menschen in einen euphorischen Zustand der absoluten Selbstsicherheit zu versetzen. Sportliche Endorphin-Ausschüttung im Zusammenklang mit dem Gefühl sich gesund und zugleich umweltbewusst zu bewegen hat offensichtlich eine ähnliche Wirkung wie Kokain. Kommt zu diesem Cocktail noch ideologisches Sendungsbedürfnis hinzu, so entstehen zweirädrige Kreuzritter, die selbst den Tod nicht fürchten. Ein Phänomen, das man bereits von den Taliban kennt.
Selbst die härtesten Vorkämpfer gegen Konsum, Beschleunigung und materielle Wollust entgehen ihrem Schicksal nicht. Ihre hormongesteuerte Selbstherrlichkeit führt sie zunächst in einen Kühlergrill und dann in den Lobbybereich der Schöpferresidenz.
Ich versichere, dass dieser Beitrag nicht die Einführung eines Führerscheins für Radfahrer propagieren soll. Das wäre vermutlich so sinnvoll wie der Versuch, den Afghanistankonflikt durch Einführung einer Waffenscheinpflicht zu beenden. Ich möchte lediglich anregen, leise gen Himmel zu lauschen, wenn wieder einmal ein verhaltensauffälliger Radfahrer vorbeigefahren ist. Vielleicht ist ja der Nachhall eines hysterischen Lachens zu vernehmen.
 
Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Ausflug ins Blaue, aber lassen Sie sich nicht von den lockenden Rufen der Verlorenen verleiten, die durchgezogene Linie der Vernunft zu überradeln.

Philipp Heine

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