Von der Todesnähe und Zweirädern - Von Philipp Heine
Wer – außer den Angehörigen der virtuellen Generation - erinnert sich nicht an jene lauen
Sommerabende, an denen man auf dem Rücken im Gras lag und in die Unendlichkeit
der Sterne blickte. Klein kam man sich vor, und man staunte über Weisheit und
Ratschluss jener höheren göttlichen Macht, die all dies geschaffen hatte.
Zunehmend beschleicht mich jedoch das blasphemische Gefühl, dass der große Schöpfer entweder
einen merkwürdigen Humor oder eine sadistische Tendenz haben könnte. Die
Anzeichen dafür werden sowohl auf makrokosmischer als auch mikrokosmischer
Ebene sichtbar. Alles weist darauf hin, dass die Selbstzerstörung der
erschaffenen Wesen eine wesentliche Pointe des göttlichen Lustspiels ist. Es
scheint ein Naturgesetz zu sein, dass all jene Dinge, die angenehm und
erfreulich sind, gleichzeitig auch die gefährlichsten sind. Gutes Essen, Sex,
Alkohol, Autofahren oder Rauchen, alles resultiert in Krebs, Herzinfarkt oder
AIDS. Diejenigen Menschen, die aus Todesangst auf die schädlichen Freuden
verzichten, leben häufig länger und müssen sich nicht vor dem Tod fürchten, da
dieser sich kaum von ihrem bisherigen Leben unterscheidet. Der Schöpfer lächelt
fein.
Ich möchte den perfiden kosmischen Plan im Kleinen an einer
besonderen Gruppe von Menschen nachweisen, die außergewöhnlich gut anschaulich
machen, dass man nicht entkommen kann: Die Radfahrer.
Eine Reihe von merkwürdigen und zugleich arttypischen
Begegnungen mit Vertretern dieser Subkultur hat mich bewogen, dieses Thema aufzugreifen
und zu vertiefen:
Tief in Gedanken spazierte ich vor einigen Tagen durch die
sonndurchflutete Innenstadt, als plötzlich
ein gellender Schrei ertönte, gefolgt von lauten Gebrüll. Mein erster
Verdacht war, dass ich Zeuge einer Verschleppung sein könnte. Wieder wird ein
unschuldiger Fanatiker von den Häschern der CIA nach Guantanamo entführt. Doch
nein! Das Bild, das sich mir bot war ein ganz anderes: Am Straßenrand stand ein
zorniges Männlein mit Fahrrad, das drohend seine kleine Faust gegen einen Autofahrer
richtete, der es vermutlich seiner Vorfahrt beraubt hatte. Flüche und
Schimpfworte wurden betont laut ausgestoßen, als sollten sie der Öffentlichkeit
mitteilen „Hilfe, hier wird ein Mensch unterdrückt!“. Der Mann trat
standesgemäß auf, nämlich in beige Hose und Outdoorjacke gewandet, Sandalen
ohne Socken, ergrauter getrimmter Vollbart und Brille, was ihn als Beamten des
öffentlichen Dienstes mit Hauptfächern Deutsch und Sozialkunde auswies. Auf
seinem Haupte saß der geforderte Schalenhelm, der in meiner Jugend zu
unausweichlichem Verprügeltwerden durch größere Mitschüler geführt hätte.
Erleuchtung traf auf rohe Barbarei.
Nur einen Tag später fuhr ich mit meinem Auto auf eine
Landstraßenkreuzung zu, als, wie aus dem Nichts, ein unglaublich aerodynamischer
Mensch auf einem Rennrad besagte Kreuzung auf meiner Seite der Verkehrsinsel
schnitt und mir auf meiner Straßenseite entgegen kam. Vor Schreck konnte ich
nicht einmal den Namen des Sponsors auf seinem Trikot erkennen. In mein
Gedächtnis brannte sich nur dieser komplett ungerührte, ja todesverachtende
Blick, der mich vollständig zu ignorieren schien.
Die dritte denkwürdige Episode ereignete sich heute Morgen,
als ich mit dem Hund zum Gassigehen fuhr. Auf dem Weg kam mir auf einem Rad ein
älterer Herr entgegen. Wir befanden uns in einer Tempo-30-Zone, die ich mit
Tempo 30 durchquerte. Dennoch gab mir der Herr mit einer
Auf-und-ab-Winkbewegung zu verstehen, dass mein Fahrtempo irgendeine Art der
Bedrohung darstellte. Ich ging zunächst dankbar und optimistisch davon aus,
dass er mich vor einigen jener Prätorianer des öffentlichen Rechts warnen
wollte, die sich gelegentlich heldenhaft mit einem Blitzgerät hinter Büschen
verstecken, um so ihren Kampf gegen Gewalt, Korruption und organisiertes
Verbrechen zu führen. Nach einigen hundert Metern musste ich feststellen, dass
es sich nicht um eine solche Warnung gehandelt hatte, da kein Blitzer zu sehen
war. Das Winken war also kein Akt der Freundlichkeit, sondern Ausdruck pensionierter
Verkehrspädagogik. Welch eine menschliche Enttäuschung!
Was verbindet nun diese drei Alltagsgeschehnisse
miteinander?
Das Radfahren scheint den Menschen in einen euphorischen
Zustand der absoluten Selbstsicherheit zu versetzen. Sportliche Endorphin-Ausschüttung
im Zusammenklang mit dem Gefühl sich gesund und zugleich umweltbewusst zu
bewegen hat offensichtlich eine ähnliche Wirkung wie Kokain. Kommt zu diesem
Cocktail noch ideologisches Sendungsbedürfnis hinzu, so entstehen zweirädrige
Kreuzritter, die selbst den Tod nicht fürchten. Ein Phänomen, das man bereits
von den Taliban kennt.
Selbst die härtesten Vorkämpfer gegen Konsum, Beschleunigung
und materielle Wollust entgehen ihrem Schicksal nicht. Ihre hormongesteuerte
Selbstherrlichkeit führt sie zunächst in einen Kühlergrill und dann in den
Lobbybereich der Schöpferresidenz.
Ich versichere, dass dieser Beitrag nicht die Einführung
eines Führerscheins für Radfahrer propagieren soll. Das wäre vermutlich so
sinnvoll wie der Versuch, den Afghanistankonflikt durch Einführung einer Waffenscheinpflicht
zu beenden. Ich möchte lediglich anregen, leise gen Himmel zu lauschen, wenn
wieder einmal ein verhaltensauffälliger Radfahrer vorbeigefahren ist.
Vielleicht ist ja der Nachhall eines hysterischen Lachens zu vernehmen.
Ich wünsche Ihnen einen wunderschönen Ausflug ins Blaue,
aber lassen Sie sich nicht von den lockenden Rufen der Verlorenen verleiten,
die durchgezogene Linie der Vernunft zu überradeln.
Philipp Heine
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