Stets kritisch

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Montag, 17. März 2014

Frischgebackene Eltern - Hormonbedingte Geschäftsunfähigkeit

Frischgebackene Eltern - Hormonbedingte Geschäftsunfähigkeit
- von Captain Slow



Da ich demnächst Vater werde – zum ersten Mal – und Freunde und Bekannte habe, die bereits vom Storch Besuch hatten, bekomme ich stets und ständig nett gemeinte Ratschläge. In der Regel ungebeten.

Hier offenbart sich ein Phänomen: Frischgebackene Eltern wissen immer alles ganz genau. Soweit es den meist als hochbegabt empfundenen Nachwuchs betrifft. Ansonsten gern mal nicht so wirklich. Französische Revolution? Schwanensee stammt aus wessen Feder? Wirtschaftstheorien? Sogar: Die Kanzler der Bundesrepublik? Meist Fehlanzeige. Aber wie man einen Germanenwelpen großzieht, das wissen alle ganz genau. Und wehe, man sieht es anders als sie!

Es geht bei vermeintlich banalen Dingen wie Kinderwagen los. Für mich – naturwissenschaftlich analysiert – eine Wanne mit vier Rädern. Aber weit gefehlt, wie mich ein junger Vater aus unserem Freundeskreis belehrt hat. „Mit der Wahl des Kinderwagens gibst Du ein Statement ab!“ Aha. Er ist übrigens von der Emmaljunga-Fraktion. Ein schwedisches Modell. Sehr gut verarbeitet, etwas klobig. Kostenpunkt um und bei 1.000 €. Wer hip ist, greift aber zum Bugaboo. Etwas filigraner und eleganter. Eher die sportliche Variante. Kostenpunkt dito. Meine Frau erwartete von mir, dass ich mich dazu äußere. Mein Statement gewissermaßen. Zunächst Rauschen im Kopf. Aber ein anderer Freund half mir mit einem Vergleich, der auch einem Y-Chromosom zugänglich ist: Emmaljunga ist wie Volvo, Bugaboo wie Porsche. Vielen Dank, so kapiere ich das. Die Wahl war einfach. Mein Sohn kriegt Porsche. Was für ein Irrsinn!

Meist sind es ja aber die Frauen, die mit Blick auf den drohenden Nachwuchs irre werden. Hormone an, Hirn aus. Plötzlich wird wie wild eingekauft, ohne Rücksicht auf Preis und Sinn. Wenn man nicht die genau richtige Babyschale für's Auto hat, ist das Kind sofort tot. Kann man nix machen. Also ist die Auswahl eine Entscheidung über Leben und Tod. Ich weiß das übrigens von Freunden. Meine Frau ist zum Glück noch nicht irre geworden. Sie sagt, sie shopt immer noch lieber für sich selbst. Sie ist von der Louis-Vuitton-Fraktion. Wer hätte gedacht, dass ich den Quatsch mal gut finde? Lebe und lerne. Als ich klein war, gab es noch keine Babyschalen oder Kindersitze. Und ich lebe. Preiset den Herrn!

Ein Freund erzählte mir nach ständigen Besuchen in unterschiedlichen Babymärkten, dass er das Prinzip kapiert hat: Nimm irgendein Produkt. Sagen wir einen Klappstuhl. Im Baumarkt kostet der 20 €. Wenn der in einem Angelladen als Angelstuhl angeboten wird, kostet er 80 € (der Mann ist leidenschaftlicher Angler). Stell den Klappstuhl in einen Babymarkt und behaupte, er sei kindgerecht. 280 €. Kein Problem. Sitzt das Kind in was anderem: Plötzlicher Kindstod. Sofort. Gnadengesuch schon berücksichtigt. Wird also gekauft. Verdammt, ich bin in der falschen Branche. Man sollte Geschäfte eigentlich nur mit hormonbedingt Geschäftsunfähigen machen!

Kinderwagen und Babyschalen waren das Vorgeplänkel. Jetzt gehe ich ans Eingemachte! Kinderbetreuung. Bei uns eine einfache Sache. Meine Frau hat einen tollen Job und liebt ihre Arbeit. Also will sie die Position nicht verlieren und auch möglichst schnell dahin zurück. Total klar. Ich habe das immer als selbstverständlich akzeptiert. Das bedeutet: Ganztagsbetreuung nach 6 Monaten. Um Gottes Willen. Rabeneltern! Von den Damen, die ernsthaft alles an den Nagel hängen, weil der Windelpupser das Licht der Welt erblickt hat, rede ich nicht. Das ist nicht meine Welt, ich vermute aber, dass sowieso alles spannender ist, als 38 Stunden Gleitzeit im Öffentlichen Dienst. Das Kind als Flucht. Ist okay für mich. Reden wir aber über Leute mit Aufgaben.

Im Freundeskreis haben wir Eltern, die beide in richtigen Jobs berufstätig sind und dennoch erstens ein permanent schlechtes Gewissen zu haben scheinen und daher zweitens dauernd die Wahrheit für sich gepachtet haben. „Unsere Betreuung endet schon 14:30 Uhr. Ist schwierig, einer von uns muss abwechselnd früher gehen. Gibt etwas Ärger mit dem Chef. Hilft ja nichts. Aber länger geht natürlich nicht. Wenn man das Kind nur abschiebt, sollte man es von vornherein lassen.“ Oder: „Montag und Freitag Nachmittags ist Papa-Tag! Ja, mein Unternehmen leidet darunter, weil ich meine Arbeit so natürlich nicht schaffe. Aber er braucht das. Sonst geht es ihm nicht gut.“

Man könnte darüber diskutieren. Sollte man aber lieber lassen. Frischgebackene Eltern sind für Argumente anderer nicht zugänglich. Sie haben einfach Recht. Wer das anders sieht oder gar macht, kommt nicht mal mehr ins Fegefeuer. Direkt runter zu Beelzebub. 1.000 Jahre in siedendem Öl. Man tut sich und denen einen Gefallen, wenn man das akzeptiert.

Die folgenden Zeilen richten sich daher an Menschen, die noch keine Welpen in die Welt gesetzt haben.

Meine Eltern haben permanent gearbeitet und ich hatte deshalb ein Kindermädchen. Ich denke nicht, dass mir das geschadet hat. Es gibt Menschen, die meinen, dass ich einen erheblichen Schaden habe. Ich führe den aber auf andere Umstände zurück. Ich bin zudem nicht repräsentativ.

In Frankreich ist Ganztagsbetreuung von Kleinkindern völlig normal. Was kann also schlimmstenfalls passieren? Mein Sohn wird ein beschissener Autofahrer, hat eine 6 in Englisch und krakeelt ständig auf der Straße. Dafür kann er super kochen und kriegt ordentlich Ladies in die Kiste. Ich mag ihn schon jetzt!

Captain Slow




Samstag, 8. März 2014

Krimskrams



Krimskrams - Von Philipp Heine

Stellt man sich einen Vertreter vergangener Epochen vor, so entsteht meist ein zwiespältiges Bild: Auf der einen Seite rührt sich der romantische Aspekt, der das unverdorbene, kraftvolle und naturnahe Menschsein und das Leben in Zeiten, in denen noch Geheimnisse und unbekannte Wildnis existierten, bewundert. Auf der anderen Seite ist der Blick des zivilisationsgeprägten Mitteleuropäers mitleidig nach unten gerichtet. Einst war man noch nicht reif genug, Frieden, Demokratie, Aufklärung, Toleranz und Gleichberechtigung zur Normalität zu machen. Zum Preis des Mystischen haben wir den Gipfel der Humanität erklommen. Für viele Beobachter war der zentrale und komplettierende Zeitpunkt der Fall des eisernen Vorhangs und das Ende des kalten Krieges. Mit der Revolution in den Ländern des Nahen Ostens erschienen neue zarte Blüten der Hoffnung. Doch in der letzten Zeit lernen wir, dass der Mensch noch weit davon entfernt ist, den Zustand der Perfektion zu erreichen.
 
Jenseits der Berge scheint eine dunkle Macht, die man bereits für vergangen hielt, neu zu erwachen. Schritt für Schritt, fast unbemerkt, breitet sich erneut ein Schatten über der Welt aus. Finsterlinge und Despoten scharen sich zusammen und warten auf den Ruf ihres Herrn. Leider ist es diesmal nicht damit getan, einen Ring in einen Vulkan zu werfen, um  der Situation Herr zu werden. Der dunkle Lord, nennen wir ihn Wladolf Putler, kennt die Schwäche seiner Gegner genau: Sie sind an die öffentliche Meinung und die Rechtstaatlichkeit gebunden und haben sich öffentlich zu Toleranz und Frieden bekannt. Lachend sitzt er in seiner Burg und kann Schritt für Schritt provozieren, ohne eine schnelle und entschlossene Reaktion fürchten zu müssen. Jahrelang hat er seine opportunistischen Vasallen, darunter eitle Machtmenschen aus Hannover, benutzt, um die Welt abhängig von seinen Gütern und Handelsnetzen zu machen. Aus Gier sah man geflissentlich über zunehmende Verstöße gegen die humanistischen Ideale hinweg. Unterdrückung von Minderheiten und Opposition, Sklavenarbeit und Protektion von Diktatoren war nicht so wichtig, wie günstige Rohstoffe und Absatzmärkte. Nun werden Tatsachen geschaffen, die nicht umkehrbar sind, ohne alles zu riskieren, was man als Fundament einer aufgeklärten Welt betrachtet.
 
Die Chance auf Frieden darf nicht aufgegeben werden, doch wie groß können Zugeständnisse sein? Der große Führer verfügt über ein Weltreich von Menschen, die zu großem Anteil über nur geringe Bildung verfügen, ein massives Alkoholproblem haben und ihre Vorstellungen von Ethik nur in einer totalitären Gesellschaft erlernt haben. Sein Reich ist angefüllt mit furchtbaren Waffen und Soldaten, die darauf brennen, verstreute Volksgenossen heim ins Reich zu holen. Noch liegt der Fokus der Expansion nur dicht hinter seiner eigenen Grenze, doch wer könnte noch zu jenen gehören, die eigentlich ins Reich gehören, wenn die ersten Schritte erfolgreich waren?
 
Einst war der hohe Herr ein kleiner Spitzel und Scherge, der für ein vergangenes Reich seinen Dienst versah. Einige Jahre verbrachte er auch in Dresden. Somit könnten die neuen Bundesländer, die ja lange Jahre quasi eine besetzte Kolonie waren, durchaus als abtrünniges Territorium betrachtet werden, dessen letzte Wiedervereinigung ja nur bedingt erfolgreich war. Wollen wir also unsere Brüder und Schwestern im Osten dem Frieden opfern und sie dem finsteren Fürsten als besänftigendes Geschenk darbringen? Bevor nun der Eine oder der Andere laut zustimmt und Bayern gleich mit ins Paket packen möchte, möchte ich daran erinnern, dass wir uns doch inzwischen recht gut an einander gewöhnt haben und zusammengewachsen sind, sogar mit den Bayern. Entsprechend denke ich, dass konsequente Sanktionen und eine außenwirtschaftliche Neuorientierung das bessere Mittel der Wahl sind.
 
Ich fürchte, dass es nicht in der Macht der demokratischen Länder steht, die eroberten Gebiete friedlich zurück zu gewinnen, zumal der Groll der anderen Partei nicht zu einem dauerhaften Damoklesschwert werden darf. Es muss aber ein Preis verlangt und eine Grenze gezogen werden, deren Überschreitung nicht friedlich hingenommen werden kann.
 
Wichtig ist aber, dass keine neue unüberwindliche Mauer entsteht, sondern dass ein friedlicher Austausch und vorsichtige Kooperationen am Leben erhalten werden.

Ich wünsche uns allen einen kleinen Mann mit haarigen Füßen, der mit unerschütterlicher Freundlichkeit und Mut dafür sorgt, dass am Ende ein großes Fest unter dem großen Baum stattfinden kann.

Philipp Heine

Mittwoch, 5. März 2014

Auch das jüngste Gericht ist gealtert



Auch das jüngste Gericht ist gealtert - Von Philipp Heine

Was haben Hollywood und die Vergabe von Drittmitteln in der Forschung gemeinsam? Nun, beide werden danach bewertet, inwiefern aktuelle Probleme bearbeitet werden, von denen möglichst viele Menschen hautnah und dramatisch betroffen sind. Anders ausgedrückt: Je größer und emotionaler die öffentliche Wahrnehmung und der damit verbundene Absatz, desto besser. Erstaunlicherweise führt diese Tatsache sowohl in der Traumfabrik als auch in Forschungseinrichtungen zu exakt gleichen Ergebnissen. Ergebnisse, die uns vergegenwärtigen, dass in alten Zeiten  beide scheinbar so unterschiedlichen Branchen noch vereinigt waren. In der Antike nannte man die gefeierten Protagonisten dieses Ur-Gewerbes Propheten. Und nach wie vor handeln die höchstdotierten Produkte vom gleichen Thema: Dem Weltuntergang.
 
Nichts spornt die menschliche Fantasie und Kreativität mehr an als Massenvernichtung. Das einzige Szenario des Weltenbrandes, das dem Publikum nicht geläufig ist, besteht darin, dass die Bewegung des Universums an Fahrt verliert und schließlich stehenbleibt. Dieser Tod durch Langeweile dürfte in Sachen Verkaufszahlen nicht sonderlich vielversprechend sein. Alle anderen möglichen Varianten haben wir gesehen: Dinosaurier, Supervulkane, Atomkrieg, Ozonloch, Kometen, Supernovae, schwarze Löcher, Viren, Kippen der Erdachse, Dieter Bohlen und aktuell den Klimawandel. 
 
An letzterem lässt sich besonders gut veranschaulichen, wie glaubwürdig die Vorhersagen jener weisen Männer sind, die früher mit zerzaustem Haar und irrem Blick auf Marktplätzen predigten und heute mit Brille und Krawatte in Hörsälen und Talkshows anzutreffen sind. Der Autor der sogenannten „Offenbarung des Johannes“ war sicher nicht der erste, aber zweifellos der wirkungsvollste Apokalyptiker der Geschichte. Generationen von Gläubigen versuchten immer wieder, den Zeitpunkt des Untergangs nach seinen Vorgaben zu berechnen und sahen sich stets am ermittelten Zeitpunkt genötigt, ein Korrekturangebot zu machen. Lagen dem Europäer keine eigenen Hinweise auf den sicheren baldigen Tod vor, griff man auch gern zu fremden Quellen, wie dem Mayakalender und interpretierte diesen derart (fehl), dass er ins Konzept passte. 
 
Mancher mag sich noch an die kalten Winter der 60er und 70er Jahre erinnern. In diesen Tagen verkündeten die Meteorologen mit dem Brustton der todesnahen Überzeugung, dass zweifellos eine neue Eiszeit über die Menschheit hereinbrechen werde. Heute ist das Gegenteil der Fall und wir alle sind schuld. Durch unsere Sünden an Gottes Schöpfung führen wir eine globale Erwärmung herbei, die uns zweifellos mit Feuer und Wasser vom Angesicht der Erde tilgen wird. Es besteht eine entfernte Möglichkeit, dass wir durch Tugendhaftigkeit und Umkehr die Strafe des Herrn abmildern könnten. Die wahrscheinlichere Möglichkeit aber, diesem Schicksal zu entgehen, besteht darin, dass uns vor den Folgen der Hitze eine andere Katastrophe, wie Atomtod oder Kometeneinschlag, vernichtet. Wer an diese Menetekel glaubt, wie all die Jünger des missionarischen Ökoismus, hat der Logik zufolge keine Argumente mehr gegen das Rauchen oder für vegane Ernährung. Wir sind als Mitglieder der letzten Generation dem Tod in einem Tsunami oder einer pyroklastischen Wolke geweiht. So, wie alle anderen letzten Generationen vor uns auch. Logik ist es aber nicht, was rechtschaffene Gläubige antreibt. Es ist die Berufung, als Märtyrer am Strand von Palma de Mallorca in einer Flutwelle zu ertrinken.
 
Zugegeben: Der Klimawandel existiert. Da das Klima aber seit Beginn der Welt im Wandel befindlich ist, ist das nicht wirklich eine Überraschung. Wahrscheinlich wirken Gase, die vom Menschen produziert werden auch als beschleunigender Katalysator. Das bedeutet jedoch nicht automatisch die globale Katastrophe. Analysiert man archäologische Befunde und antike Quellen, so wird man feststellen, dass warme Perioden fast immer mit Hochphasen der Kultur einhergingen, da durch die Hitze mehr atmosphärische Feuchtigkeit vorhanden und damit die Grundlage für mehr fruchtbare Gebiete gegeben war, als in Kältephasen, in denen die Feuchtigkeit in den Meeren und Eisschilden gebunden ist. Wir werden uns einfach darauf einrichten müssen, dass wir nun von anderen klimatischen Gefahren bedroht werden, als früher. Unsere Überlebenschancen ändern sich dadurch aber nicht notwendigerweise.
 
Immer wieder sickert durch, dass in Medien und Wissenschaft eine regelrechte Zensur stattfindet, die etwa Forschung behindert, die sich mit dem bisher deutlich unterschätzten Einfluss der Sonnenaktivitäten auf das Klima der Erde beschäftigt, oder Ausmaß und menschliche Urheberschaft der nahenden Vernichtung relativiert.
 
Es scheint also, dass auch der Mensch unserer Tage süchtig nach dem Gefühl ist, der letzten, mächtigsten, perfektesten und zugleich düstersten Generation anzugehören. Das triste Dasein als Beamter im mittleren Dienst hat somit Teil an heiligem und heroischem Glanz. Hier sind die letzten Tage, die für stille Meditation am Rande des Abgrunds genutzt werden, bevor der letzte einsame Gang durch das läuternde Feuer ins ewige Licht angetreten wird. Dieser Abgang ist deutlich verheißungsvoller als ein Schlaganfall auf der Toilette.
 
Ich wünsche Ihnen, dass Sie stets Zuversicht und Sonnencreme mit sich tragen.

Philipp Heine

Dienstag, 4. März 2014

Die Renaissance des Haars in der Suppe



Die Renaissance des Haars in der Suppe - Von Philipp Heine

Liegt es an mir, an meinem fortschreitenden Alter oder an meinem Mangel an Coolness? Wohin ich in letzter Zeit auch blicke, Fernsehen, Innenstadt, Gaststätte  oder Verein, überall tummeln sich immer mehr junge Männer mit unfassbar hässlichen Hornbrillen, Vollbärten, Häkelmützen und Markenkleidung, die wohl aussehen soll, als wäre sie keine. Ich gestehe, dass mich langsam eine gewisse Panik befällt, dass die unsäglichen 70er Jahre wieder über uns hereinbrechen, die an Stilmangel selbst durch den Neandertaler nicht übertroffen wurden. Nachdem Generationen von Heranwachsenden sich in der Kunst der Selbstverstümmelung und Selbstentstellung in einem wahnwitzigen Wettbewerb zu überbieten versuchten, ist die derzeitige Krönung in Form des sogenannten Hipsters erreicht.
 
Durch den Einsatz von Pickelhauben, Pomade, Imponiernarben im Gesicht, flächendeckenden Tätowierungen, Piercings, Brandings, Implantaten, Ballonmützen, Pumphosen, Schlaghosen, unrasierten Achselhöhlen oder rot gefärbten Haaren war es bislang nicht gelungen, das offensichtliche Endziel, nämlich die Ausrottung der Gattung Mensch durch Verhinderung von Beischlaf, zu erreichen. Nun könnte es bald soweit sein: Vor meinem Auge entsteht die beunruhigende Vision eines lockigen Vollbartes, der zärtlich eine Melange von Eigelb, Caffè latte und Bulgursalat auf Lisa-Marie´s Hello-Kitty-Tattoo pinselt, beobachtet von zwei Augen, die durch eine übergroße Brille blicken, die an Streber in der Unterstufe oder amerikanische Großmütter erinnert. Im Hintergrund spielt „Hey Brother“ von Avicii in Endlosschleife auf N-Joy. Liebe Tiere, Eure Zeit der Herrschaft ist gekommen!
 
Wie kann es kommen, dass der Bart, ein rudimentäres Relikt aus Primatenzeiten, immer wieder einen Weg findet, als Stilmittel der Selbstinszenierung missbraucht zu werden? Selbst nachdem Kaiser und Führer die Funktion der Gesichtsbehaarung als Genital- und Gehirnsubstitut bewiesen haben, scheinen Männer den mundnahen Akzent zu brauchen. Bereits wenige Tage nach der Pubertät denkt sich der 15-jährige Lehrling, dass ihn der weiche Flaum stante pede zum Alpharüden befördert, wenn er ihn stehen lässt. Später, wenn sich der Bartwuchs gefestigt hat, steht eine ganze Bandbreite von Bartformen zur Verfügung, die – jede auf ihre Art und Weise – den Anschein erweckt, als hätte der Träger eine besondere Botschaft, die mit großer Männlichkeit vertreten wird. Da ist der solide und bescheidene Bürger mit Schnauzer, der Intellektuelle mit norddeutschem Fischerbart, das kreative Filou mit Zwirbelbart, oder der weise Großvater mit Weihnachtsmannbart, der sich leider häufig als Obdachloser entpuppt.  Alle tragen sie die haarige Gesichtsmaske, die stets den Verdacht hinterlässt, dass etwas verborgen werden soll. Jene Männer, die sich in Bart-Vereinen zusammenschließen  und täglich Stunden mit Wachs, Brennschere und Fön zubringen um abstruse Gebilde dort entstehen zu lassen, wo andere lächeln und sich küssen, treiben das Gefühl auf die Spitze, dass Äußerlichkeiten von massiven Problemen ablenken sollen. Je größer und exzentrischer der Bart, und damit das Werbetransparent, desto enttäuschender kann es sein, mit diesen Menschen erste Worte zu wechseln, wenn man feststellen muss, dass es sich weder um einen Vertreter der Intelligenzija, noch einen griechischen Gott handelt.
 
All diese Tatsachen sind seit geraumer Zeit bekannt. Nun jedoch fällt auch dem bebrillten Mützenverehrer ein, dass der Bart seine Gesamterscheinung perfekt abrunden könnte und er schlau und alternativ vor der weiblichen Welt erscheinen würde.
Die Geschichte lehrt uns, dass das schöne Geschlecht wahrscheinlich auch bei dieser modischen Entgleisung dumm und blind genug sein wird, den Hipstern Schläue und Stil abzukaufen. Später, im posthormonellen Alter, werden auch die Vertreterinnen dieser Generation dann die alten Bilder betrachten und sich mit leichter Röte im Gesicht fragen, was sie sich damals gedacht hatten.
 
Mit anderen Worten: Auch wenn ich derzeit einen ästhetischen Alptraum erlebe, muss ich mir eingestehen, dass die Menschheit wohl auch dieses Mal überleben wird. Ich denke, dass dies eine positive Erkenntnis ist, die mich dazu bringt, das alberne Treiben um mich mit einem Lächeln zu beobachten. Gut rasiert werde ich abwarten, welche vergangenen Fehltritte der Mensch sich als nächstes anschickt, aus der Mottenkiste der Geschichte hervor zu kramen. Irgendwie habe ich den Verdacht, dass es riesige Schulterpolster sein könnten.

Ich wünsche Ihnen gute Fahrt im ewigen Kreislauf der kommerziellen Stillosigkeit.

Philipp Heine

Samstag, 1. März 2014

…und ein Engelchen für die Dame



…und ein Engelchen für die Dame - Von Philipp Heine

Die moderne Frau ist weltoffen, kritisch, sachlich und pragmatisch. Nur Relikte sind von den Tagen geblieben, als ein Frauenzimmer als hysterisch galt, wenn es wagte, dem Patriarchen den Gehorsam zu verweigern. Ohnmacht und Riechfläschchen gehören der Vergangenheit an, wie die ausschließliche Zuordnung der Frau zu Kirche, Kind und Küche. Die Dame von heute bekennt sich zu ihrer genetischen Befähigung zum Multitasking und managt die berufliche Karriere und ihren ausgehandelten Anteil des Haushalts.
Manchmal stößt der männliche Betrachter jedoch erstaunt auf kleine kitschige Anzeichen dafür, dass noch versandete Überbleibsel jenes Harmonietriebes verblieben sind, der Frauen einen großäugigen feuchten Blick abnötigt, wenn Familie, Freunde, Heimat und das Jenseits für einen Augenblick in einem kuschligen Nest vereint sind. 

 Eins dieser Anzeichen ist das Engelchen. Diesem in Ostasien produzierten, fromm nach schräg oben blickenden, in zum Sternzeichen passendem Kristall vorrätigen und bereits für nur 12,99€ verfügbaren Archetyp der Weiblichkeit möchte ich mich heute zuwenden.
 
Die reine christliche Lehre ist heute nur für wenige weibliche Vertreter der neueren Generationen Deutschlands eine Antwort auf ihre Fragen nach dem „Woher?“ oder „Wohin?“. Spirituelle Aktivität kann dieser Tage unter dem Oberbegriff „Esoterik“ subsumiert werden. Aus allerlei Religionen, Riten und Traditionen werden verschiedene Elemente entliehen und zu etwas anscheinend Neuem modelliert. Dabei fällt auf, dass Männlein und Weiblein bei der Auswahl ihrer neuesten Welterklärung unterschiedliche Schwerpunkte setzen: Männer stehen auf dunkle Beschwörungen, Kutten, Mystik und Initiationen, während die Damen nicht ohne Accessoires wie Kristalle, luftige Tücher, ätherische Öle, gläserne Pyramiden oder eben Engel auskommen. Mehr oder weniger erfolgreich versuchen sie den Spagat zwischen Individualität und Anpassung an Gemeinschaft und Regeln. Besonders für Frauen sind letztere sehr wichtig, da sie dazu neigen, Dinge korrekt und sorgfältig tun zu müssen. Ohne eine Gruppe oder Vorgaben, könnte kein Gefühl der Erfüllung und des Erfolges erzielt werden. Man fragt sich, mit welcher Selbstdisziplin es den Inhabern von Esoterikläden gelingt, nicht kreischend loszulachen, wenn sie mit verstehendem Nicken das Kristallengelchen und die Flasche mit Duftöl einwickeln.
 
Warum Engel? 
 
In der Tradition der abrahamitischen Religionen waren Engel Hofstaat, Leibwache und Botenservice Gottes. Aufgeteilt in eine strikte Hierarchie, unsterblich und von gottähnlicher Reinheit waren sie alles andere als niedlich und menschenfreundlich. Allein ihr Anblick konnte tödlich oder mindestens gesundheitsabträglich sein. Mit flammendem Schwert fungierten sie als Türsteher der himmlischen Exklave auf Erden, nämlich des Paradieses. Michael und Gabriel sind Inbegriff der ultimativen Krieger, vor denen kein Ungeheuer oder Heide bestehen konnte. Auch Luzifer (lateinisch für „Lichtbringer“), der als Inkarnation des Teufels gilt, soll ein gefallener Engel gewesen sein, dem sein Hochmut den Fall bedeutete. Bilder zeigen Engel als androgyne Wesen, für die leibliche Vergnügen kein Thema sind. Vermutlich würden ausladende Gemächte und Brüste auch für eine schlechte Aerodynamik sorgen und den Flug durch lautes Hin- und Herschlappen stören.
 
Erst im Zeitalter des Barocks, als absolutistisch-hedonistische Herrscher sich aus gutem Grund lieber niedliche Gottesboten vorstellten, die eher freundlich und liberal mit fleischlichen Verfehlungen umgingen, wandelte sich das Bild des Engels in die Richtung, die heute allgegenwärtig ist. Man kann sagen, dass heutige Engelsdarstellungen nur geringe Ähnlichkeit mit den Engeln der Bibel haben. Erstaunlich ist jedoch, wie exakt sie all die Ideale wiederspiegeln, die von der modernen Werbung transportiert werden: Blütenweiße Reinheit, ewige Jugend, Überwindung des Todes, schlanke Linie und – trotz Flug – immer eine perfekte Frisur. Nicht zuletzt den beiden frivolen Engels-Putten, die zu Füßen Raffaels „Sixtinischer Madonna“ dargestellt sind, verdanken wir die Tatsache, dass auch das Kindchenschema mit Engeln zusammenwuchs. Mutti kann also auch beim Gedanken an Engel den Babymodus aktivieren, wobei ihre Pupillen auf das Niveau eines japanischen Comic-Sympathieträgers anwachsen.
Befragt man die Damen, was Engel so bedeutsam für sie macht, dann wird man in der Regel mit zwei Aussagen konfrontiert, die eng miteinander verknüpft sind:
 
Zunächst wird davon ausgegangen, dass die Seelen verstorbener Verwandter nicht im Nirwana verwehen, sondern, jedenfalls wenn die betreffende Person reinen Herzens war und stets rechtschaffend handelte, nach dem Tod zum Engel wird und auf diesem Wege Teil sowohl der himmlischen, wie auch der irdischen Welt sein kann.
Zweitens übernehmen diese geliebten Verstorbenen die Funktion des Schutzengels. Stets sind sie da und halten ihre schützende Hand über uns, wenn Gefahr droht oder Trost benötigt wird.
 
Ich möchte kein Urteil darüber fällen, wie wahrscheinlich und begründet dieser Engelsglauben ist. Abschließend und zusammenfassend soll aber bemerkt werden, dass das Konsumprodukt Engelchen für die Dame, fast so genial ist, wie Bier für den Herrn. Alles, was die durchschnittliche Frau positiv finden kann wird bedient: Babys, Familie, Trost, Sauberkeit, Ordnung und Geborgenheit werden relativ preiswert, transportabel, dekorativ und gesellschaftlich anerkannt dargeboten. Zudem verspricht der Besuch eines adretten Esoterik-Fachgeschäfts ein tolles Shopping-Erlebnis inklusive Sphärenklängen, empathischen Ratgebern zu Leben und Suche nach der eigenen Mitte, freundlichen Tüchern in aktuellen Modefarben und einem netten Verkäufer, der stets ein geheimnisvolles Lächeln auf den Lippen zu haben scheint.

Ich hoffe, dass die himmlischen Heerscharen Ihnen  gewogen sind, auch ohne dass Sie die deutsche Engelchenindustrie zu neuen Rekordzahlen gebracht haben.

Philipp Heine